Dieser Teil wird etwas theoretischer. Teil 1 mit meinem persönlichen Start findet ihr hier.
An der Borderline-Diagnose gibt es so viel zu kritisieren, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Vielleicht vorweg: NEIN, wir sind nicht alle „ein bisschen Borderline“. Die Diagnose ist problematisch, das Erleben dahinter jedoch sehr real. Und NEIN, das kenne nicht alle „auch ein bisschen“. Weil „Borderline“ nicht für „ein bisschen“ steht sondern für Extrem. In allen Bereichen. (Warum Extrem auch ganz gut ist, erklärte ich hier). Hinter allen Konstruktionen stecken auch reale Erfahrungen. Und bei einer Kritik an Diagnosen ist es wichtig, diese Erfahrungen eben nicht zu relativieren, Be-hinderungen (meist durch Erwartungen der Gesellschaft) sichtbar zu machen und zu respektieren, wenn Betroffene das Berufen auf die Diagnose als Hilfsmittel in Anspruch nehmen.
Mir fällt es sehr schwer die Gratwanderung zu schaffen, die sich zwischen einer oft pauschal antipsychiatrisch geprägten Linken und einer total unpolitischen Ansammlung von vereinzelten Betroffenen bewegt. Weil ich beiden Seiten gerne eine Menge entgegenschleudern würde. Weil alternative Strukturen fehlen um mit Schmerz, Panik, Depression und dem Emotionschaos umzugehen.
Borderline fällt nach dem ICD-10 unter Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen. F 60.31 ist der Diagnoseschlüssel, für alle die Suchmaschinen bemühen wollen. Persönlichkeitsstörungen verkörpern demnach „gegenüber der Mehrheit der betreffenden Bevölkerung deutliche Abweichungen im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und in den Beziehungen zu anderen“. Schon alleine an diesem Abweichungsgedanken lässt sich viel kritisieren. Dennoch ist wichtig, das selbst im ICD-10 die Wichtigkeit des persönlichen Leidens einbezogen wird. Wer also abweicht und sich darin wohl fühlt, ist quasi nicht „gestört“ – wenn die „soziale Funktionsfähigkeit“ allerdings beeinträchtigt ist, sieht das eher anders aus. Borderline wird dort als „emotional instabile Persönlichkeitsstörung“ bezeichnet. Dabei „besteht eine Tendenz zu streitsüchtigem Verhalten und zu Konflikten mit anderen“.
Alleine diese Kategorie macht viel Willkür deutlich. Wann weicht eine von der Norm ab, welches Verhalten wird als sozial nicht-funktionsfähig eingeordnet, welche gesellschaftlichen Strukturen zwingen überhaupt in welche Normen und Funktionszwänge? Und streitsüchtiges Verhalten, oha, was soll das denn sein?
Wie typisch für Diagnosen wird Gesellschaft nur in Form einer unhinterfragten Norm miteinbezogen. Als Frau* bin ich in der Gesellschaft eh in einer potentiell konflikhaften Situation. Und wenn ich mich nicht unterordne, sondern sie austrage, könnte das leicht zu einem „streitsüchtigen Verhalten“ führen, oder? Also als Feministin, gerade wenn ich dann auch noch Wut empfinde, was zu emotional-instabil gehört, bin ich also schon immer nah an einer emotional-instabilen Persönlichkeit gewesen. Yeah.
Schauen wir uns doch mal genauer die Diagnoseerklärungen nach diesem andern Diagnosespaßkatalog an, dem DSM – IV. Da gibt es neun Kriterien. 5 davon müssen erfüllt sein. (Ich weiß, das ist ziemlich einfach. Gibt auch super Tests dazu im Internet.)
1. Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden.
Gleich einer der Punkte die mir sehr schwer fallen. Eine innere Sicherheit fehlt, die Möglichkeit, Menschen in sich zu tragen – auch wenn diese nicht anwesend sind. Daran habe ich für mich lange arbeiten müssen. Mich nicht ständig allein zu fühlen. Nicht verzweifelt um Anerkennung zu kämpfen. Nicht andere Menschen manipulieren. Aber es ist auch ein Aspekt, der ganz klar auf eine Frauenrolle gemünzt ist. Auf eine Rolle, die sich per Struktur schon in Abhängigkeiten befindet, d.h. Verlassenwerden hat in der sozialen Rolle eine ganz reale Bedrohung. Wie einen Umgang damit finden, wenn in unseren Kreisen Menschen sind, die immer wieder fragen müssen, ob sie gemocht werden, ob jemand sie mag? Ich stelle diese Fragen nicht mehr. Nach meiner Erfahrung verschreckt das Menschen. Verlangt zu viel ab, stellt zu viel Verzweiflung in den Raum.
2. Ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist.
Es geht darum, dass Menschen an einem Tag für eine_n der wichtigste Mensch auf der Welt sein können – und am nächsten das Böse schlechthin. Oder das eiskalte Gefühl von: Du bist mir egal. Ich fühle nichts für dich mehr. Unsere Beziehungen sind nicht dafür gemacht, das auszuhalten. Zu viel Gefühl, zu viel extrem – wie schon oben gesagt, das verschreckt. Menschen mit Borderline wird häufig vermittelt, sie sein das Beziehungsproblem. Was – zumindest in einer Heterobeziehung – einen Beigeschmack im Bezug auf Sorgearbeit, Beziehungspflege etc. hinterlässt. Vielleicht hat es sogar was progressives, Beziehungsprobleme auszuleben anstatt sie zu verschlucken. Gerade für Frauen*. (Ich habe das noch nicht ausprobiert, ich bin zu selbstreflektiert-therapiert-kontrolliert.)
3.Identitätsstörung, d. h. ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung.
Juhu, einer meiner Favoriten. Identitätsstörung. Total großartig. Instabiles Selbstbild. Dahinter liegt der Gedanke einer „ursprünglichen“, „natürlichen“ Identität. Häufig wird auch das Beispiel der sexuellen Orientierungslosigkeit angebracht, was ich besonders großartig finde. War da nicht mal was mit einer Streichung? Wie krass werden eigentlich mit diesem Punkt alternative Lebensentwürfe marginalisiert?
4.Impulsivität in mindestens zwei potentiell selbstschädigenden Bereichen (z.B. Geldausgeben, Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, Essanfälle).
Promiskuitivität ist ja DAS Motiv bei der filmischen Darstellung von Borderline (Vgl. Allein oder Kikis-Story – beide Trailer und Filme können triggern) oder auch sehr beliebt bei Reportagen. Weil wenn Frauen* wechselnde Sexualpartner_innen haben ist das impulsiv, bei Männern ist das Geschlechtsrolle. Ein Ausbruch ist also gleich Störung.
Essen, ai, da fang ich hier gar nicht erst an. Wie sehr wird eigentlich ständig die Verantwortung für das Essverhalten auf die einzelnen Frauen* abgeschoben, wenn doch die Gesellschaft bestimmt wer wann wie viel essen darf? Normales Essverhalten wird es für mich nicht geben. Vor allem, weil diese Norm schon ultimativ sowas von kaputt ist…
Alkohol ist auch prima, gerade im Bezug auf Frauen*. Das ist mir jetzt aber zu viel für diesen Text. Ich verweise lieber auf Girls Get Ruff (Die Sängerin kündigte das an indem sie sich über Straight-edge Antifa-Kiddies aufregte, die Alkoholkonsum kommentieren und verurteilen ohne einen Zusammenhang)
Bei all den Aspekten unter diesem Punkt ist mal wieder faszinierend, wie entkoppelnd Psychologie Arbeitet. Weder wird die Norm (so gestört sie auch selbst sein mag, z.B. beim Essen) in Frage gestellt noch überhaupt ein gesellschaftlicher Bezug hergestellt. Die hier kategorisierten Symptome sind eine symptomatische Vereinzelung von gesellschaftlichen Problemen. Sie werden auf wenige abgewälzt die dann in sich (und gegen sich) versuchen dieses Dilemma auszutragen.
5. Wiederholte suizidale Handlungen, Andeutungen oder Drohungen oder selbstverletzendes Verhalten.
(Suizid (-drohungen) werd ich hier jetzt nicht bearbeiten. Eigenes Thema.)
Neben Promiskuitivität sind wohl Selbstverletzungen ständig im Fokus der Aufmerksamkeit. Dabei ist nur EIN Symptom. Ein spannendes, zugegeben. Eine Grenzerfahrung am eigenen Körper. Eine Form von Kommunikation. Eine Möglichkeit zu überleben, sich selbst zu spüren, suizidale Gedanken zu kontrollieren, zu regulieren. Selbstverletzungen sind so faszinierend, weil sie so viel können. Retten und Zerstören. Und sie werden entweder als pubertäre Phase abgetan oder als völlig gestört. Dabei schreiben Wunden Geschichten auf die Haut, erzählen das, was nicht erzählt werden kann.
Leider mit den deprimierenden Nebeneffekten wie gefährliche Verletzungen, übergriffige Ärzt_innen und dem Problem, wer wann was kontrolliert – du die Selbstverletzungen oder sie dich. Also sorry, falls das gerade beschönigend klang. Ich versteh nur einfach nicht, warum das „kranker“ ist als Rauchen. Auch wieder ein progressives Element: Etwas wird sichtbar gemacht. Meistens Formen von erlebter Gewalt.
6. Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung (z.B. hochgradige episodische Dysphorie, Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Verstimmungen gewöhnlich einige Stunden und nur selten länger als einige Tage andauern).
Wer beurteilt das, was extrem ist? Intensiv, künstlerisch, hysterisch? Und was ist daran schlecht? Problematisch wird es doch vor allem dadurch, dass die Gesellschaft damit nicht umgehen kann. Reizbarkeit bei Frauen*, ui, böse. Und wenn ich einfach immer zu Hause bleiben kann wenn die Stimmung gibt, wenn ich mich auf Partys in eine Ecke zum Heulen zurückziehen kann, wenn ich verzweifelt und funktionsunfähig sein dürfte – auch in der Öffentlichkeit – wo wäre das Problem? Die Stimmung ändert sich wieder. Es ist anstrengend, wenn ich nicht sagen kann, wie gut ich morgen arbeiten kann. Oder in einer Stunde. Was mich umwirft.
7.Chronische Gefühle von Leere.
Die Erfahrung von Diskriminierung kann beispielsweise leer machen. Negative Erfahrungen, die so stark (und/oder viel) sind, dass die Gefühle nicht mehr zu ertragen sind. Um sich zu schützen, werden die Gefühle abgeschaltet. Die inneren Reize stumpf gemacht. Wichtige Überlebensfunktionen. Dann braucht es natürlich mehr äußere Reize, um überhaupt etwas fühlen zu können.
8. Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, Wut zu kontrollieren (z.B. häufige Wutausbrüche,andauernde Wut, wiederholte körperliche Auseinandersetzungen).
Einer meiner Favoriten. Das Wut argument. Böse, wütende Frauen. Hab ich auch schon hier zitiert. Es gibt so die vereinfachte Behauptung, Frauen* mit BL würden in der Psychiatrie landen, Männer im Gefängnis. Zurechtbiegen und lernen, Wut zu kontrollieren. Sich bloß nicht schlagen. Andauernde Wut, ich würde sagen, dieses „Symptom“ erfüllen zumindest alle (coolen;) Feministinnen. Herzlichen Glückwunsch im Diagnoselotto! Sie haben was gewonnen!
9.Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome
Dissoziationen, also vereinfacht ein Abspaltung vom Ich, stehen nie im luftleeren Raum. Auch sie haben eine Überlebensfunktion. Warum wird, was hilft zu überleben, als Störung bezeichnet? Dissoziationen und psychotische Erfahrungen sind nicht witzig und auch schwer zu kontrollieren. Aber auch hier greifen wieder Vereinzelungen. Gesellschaftliche Zusammenhänge verlangen von uns oft, uns auszuspalten, abzutrennen (besonders negative Emotionen) zu funktionieren, alles sein zu können. Welche Räume werden Menschen geboten, die Gewalterfahrungen machen? Wo gibt es Schutz? Welcher Raum kommt schon dagegen an, völlig weg zu sein?
Und, wie viel hast du im Diagnoselotto gewonnen? Reicht es schon? Bist du wütend, hast du eine instabile Identität, Stimmungsschwankungen, manchmal das Gefühl es macht alles keinen Sinn? Pack noch ein paar extreme Verhaltensweisen (Selbstverletzungen, viel Sex, Versuche Verlassenwerden zu vermeiden) hinzu, et voilà: Willkommen im Borderline-Club. Statt Kekse haben wir ganze Kühlschränke voll! Sei dabei!
Dass es so einfach nicht ist, habe ich am Anfang schon deutlich gemacht. Aber dennoch ist es erschreckend, wie viel eigentlich in der Diagnose drinsteckt. Manchmal möchte ich einfach nur noch laut schreiend durch die Gegend laufen und rufen: KOOOONTEXT! Ist nicht so schwer zu kapieren. Welche Probleme diese pathologisierten Erfahrungen / „Symptome“ aufzeigen braucht noch nicht einmal viel Analyse: Patriarchat, Beziehungssysteme, Umgang mit Emotionen, Un-Sichtbarsein, fehlende Räume für Menschen mit Gewalterfahrungen (Querverweis bspw. zurück zum Patriarchat), Identitätszwang und die ganze restliche Kackscheiße. Da scheint mir manch einer der „Diagnosekriterien“ sogar hilfreich um einige Muster aufzubrechen. Extremismus ist eben wirklich nicht das schlechteste.
Ich würde mich freuen, wenn du einen Kommentar hinterlässt. Gerne auch Kritik, Ergänzungen, Verweise auf andere Texte, persönliche Erfahrungen, Nachfragen. Wut ist bei mir auch immer sehr willkommen.
Ich stimme deiner EInleitung total zu, allerdings erstaunt mich dann umso mehr, dass du ständig die Idee einer “Norm” kritisierst. Natürlich gibt es Normen, jedoch ist – und das sagst du ja selber in der EInleitung – nicht die Norm, sondern das LEIDEN der betroffenen Menschen das entscheidende. Zudem geht es wenn schon nicht um die Abweichung zur Norm in einem einzigen Bereich, sondern in mehreren.
Wer also eine ungewöhnliche Sexualität auslebt, sich damit ausgewogen fühlt, der hat keinerlei Störung.
Ach ja, noch etwas: Dies sind lediglich die einzelnen Diagnosekriterien. Sie sagen aber nicht aus, wie das Diagnoseverfahren läuft. Im Idealfall wird der Kontext für die einzelnen Verhaltensweisen immer auch miteinbezogen, bevor eine Diagnose gestellt wird.
Kalinka, nun das ist dieses Geschwafel der buergerlichen Psychologie, es wuerde einzig um das ‘Wohl’ des ‘Patienten’ gehen, aber das ist seinerseits eine Wahnvorstellung. Befindet man sich erst einmal in einem Kontext, der Persoenlichkeit an Normen misst, ist schnell egal, welche Motivation das Mass der ‘Normabweichung’ bestimmt. Die buergerliche Psychologie MUSS die Gesellschaft ausblenden, weil sie zutiefst davon ueberzeugt ist, die vom Buergerlichen konstituierte Gesellschaft sei gesund und die Abweichung davon sei ‘krank’. Man muss sich nur einmal anschauen, in welchen Berliner Bezirken die Psychotherapeuten angesiedelt sind, es geht um Normierung, Disziplin, Funktionieren und Unterordnung.
Das Diagnoseverfahren (zumindest bei mir) habe ich ja schon im ersten Teil kritisiert. Hier geht es tatsächlich um die Diagnose selbst.
Und Leiden respektieren und die Definitionsmacht Betroffener anzuerkennen, bedeutet nicht, dass eine Norm nicht hinterfragt werden sollte. Oft entsteht das Leiden erst durch das “Scheitern” an Normen. (Identität, Sexualität, Leistung und Funktionsfähigkeit, Rollenzuschreibungen)
solche kategorisierungen und pathologisierungen, wie sie die psychologie vornimmt, sind immer schwierige konzepte. gerade borderline ist im fachdiskurs nicht unumstritten. wie konstruiert diese zuschreibungen zum teil sind, zeigt sich bereits durch überschneidungen mit anderen psychischen störungsbildern.
ich halte für zentral bei borderline frühkindliche traumatisierierungen (also in den ersten 3 lebensjahren), die eine “gesunde” zwischenmenschliche beziehungsebene sehr schwierig machen. gewalterfahrungen die kinder in diesem alter machen sind sehr prägend und verhindern bspw. vertrauensvolle, konstante beziehungen. nähe und zuneigung wechseln sich plötzlich ab mit distanz und abwertung, oder treten gleichzeitig auf. in vielen mißbrauchskonstellationen ist das zu finden. hier resultieren tiefgreifende, fundamentale schwierigkeiten im aufbau von beziehungen zu anderen.
so ist in meiner eigenen erfahrungswelt, mein vater war borderliner und eine ehemalige lebensgefährtin meinerseits, borderline dadurch gekennzeichnet, dass ich einer solchen person begegne und keine ahnung habe, wie ihre reaktion aussieht. sie kann zutiefst freundlich, emapathisch und zärtlich sein, oder feindselig,m aggressiv, distanziert und sogar gewalttätig. ohne dass diese reaktion nachvollziehbar ist, das ist für mich borderline.
O.K., meinen überlangen Kommentar will das System nicht haben – ich versuche es in Teilen 🙂
Ein Thema, an das ich nicht unbedingt objektiv herangehen kann. Und eigentlich auch nicht will, sehe ich doch abseits eines “bürgerlichen Mainstream” eher Raum für eine eigenen Positionierung abseits von Forderungen nach vermeintlicher Objektivität (“Nun sei doch mal nicht so emotional!”)…
Prinzipiell stimme ich Deiner Kritik zu. Die Schulpsychiatrie ist ja nicht nur bürgerlich-konservativ, sondern auch essentialistisch/biologistisch & patriarchal durch & durch. Damit gibt sie vor, etwas ganz wertfrei zu untersuchen an dessen Aufrechterhaltung sie selbst beteiligt ist – Diskurse über Hysterie, Essensnormen & vorgebliche “sexuelle Devianz” sind da nur einige der Beispiele für den patriarchalen Charakter dieser “Wissenschaft”.
Und trotzdem kann ich aufgrund eigener Erfahrungen inzwischen nur noch zum Teil mitgehen, was Deine Argumentation betrifft.
Ich sehe immer noch das große Problem von Diagnosekriterien & ihrer Entstehung. Gerade dem DSM-IV sagt man ja nach, es sei das Märchenbuch der Pharmalobby, die bei der Erfindung neuer Krankheiten (sog. “disease mongering”) über die von ihnen bezahlte PsychiaterINNEn gut die Hände im Spiel haben. Klar, geht ja um neue Absatzmärkte.
Auf der anderen Seite aber sehe ich in den Diagnosekriterien für mich auch eine Hilfe als ganz konkret Betroffene. Mir persönlich hat es geholfen, diese Diagnose zumindest erst einmal als “Arbeitshypothese” zu begreifen auf der ich aufbauen kann – & BPS nicht als monolithischen Block zu sehen der fortan mein Leben bestimmen wird. (Zumal das in meinem Fall – frühkindliche Komplextraumatisierung – auch einfach nicht mal annähernd alles von dem abdeckt worunter ich leide oder was mich irgendwie ausmacht).
Ungern möchte ich den Eindruck erwecken, ich sei darauf aus, Deine Kritik an den Diagnosekriterien zerpflücken zu wollen – eigentlich möchte ich nur ein paar Sachen hinzufügen, die sich aus meiner Perspektive anders darstellen oder wo ich an mir & anderen andere Handlungsweisen beobachtet haben:
1. Verlassenwerden vermeiden
In der Praxis (zumindest wenn es halbwegs “sauber” abläuft), wird auch danach gefragt, ob die betreffende Person z. B. engere zwischenmenschliche Beziehungen vermeidet/”verweigert” weil das ja auch ein Bemühen ist, Verlassenwerden zu vermeiden.
Ich würde Dir zustimmen, daß die gängige Definition auf eine klassische Frauenrolle abzielt & daß es vielen Diagnostizierenden schwer fällt, sich als Frauen definierte Menschen in einer Verweigerungshaltung vorzustellen, so daß es häufig bei den üblichen Fragen bleibt. Diese diagnostischen Instrumente – die ja per se von Konzepten der Norm & Devianz leben – halte ich nicht für wertneutral (ganz im Gegenteil), ich glaube aber, sie können trotz ihrer inhärenten Problematik nutzbar gemacht werden um Menschen weiterzuhelfen.
Mir zumindest hätte es geholfen, wenn mir früher jemand klar gemacht hätte, daß meine Vermeidung von Verlieben, Beziehungen führen etc. vor allem etwas mit der Todesangst vor dem (Wieder-)Verlassenwerden zu tun hat.
2. Idealisierung & Entwertung
Ich sehe es tatsächlich so, daß dieses Idealisieren & Entwerten von Beziehungen ganz grundlegend für die BPS ist. Ist mir psychologisch auch logisch herleitbar aus double-bind- & Gewalterfahrungen, die viele (wenn nicht die meisten) der so Diagnostizierten erleben mußten.
Konflikte ausleben statt herunterzuschlucken finde ich ganz zentral – gerade wenn es um heterosexuelle Beziehungen geht. Ich bin auch so eine von denen, die eher mal was ausdiskutieren wollen. Aber ganz unabhängig von der Geschlechterkonstellation der Beteiligten: ich glaube, die Themen Idealisierung & Entwertung gehen weit über Beziehungsarbeit durch v.a. Frauen hinaus & haben nichts mehr mit einem gesunden “Ausdiskutieren statt Runterschlucken” zu tun. Die Extremsicht, die ich als Borderlinerin habe, die Extremgefühle, die ich nicht kontrollieren kann, sind im Normalfall destruktiv, für alle Seiten zerstörerisch & können tiefe Risse in eine Beziehung bringen.
Ich gebe Dir zwar absolut recht, das “uns” zu oft vermittelt, “wir” seien das Beziehungsproblem & zwar das alleinige, allerdings hinterläßt der Rest Deiner Ausführungen bei mir ein bißchen den Nachgeschmack, es sei ein alleiniges Problem von Heterobeziehungen, zumal Du auf lesbische, polyamore etc. Beziehungen nicht eingehst. Wie Du das dann siehst, würde mich tatsächlich interessieren.
3. Identitätsstörung
Was dieses Thema betrifft: Ich sehe hier natürlich auch eine Marginalisierung aller von der Norm abweichende Lebensentwürfe. Ich wollte z. B. immer gerne polyamor leben. Nicht zuletzt von meiner damaligen Partnerin wurde mir vorgeworfen, das zeige ja nur wieder, daß ich eine bisexuelle Borderlinerin ohne Anstand & Moral sei, die nur durch die Betten hüpfen wolle ohne Verantwortung zu übernehmen. Das ist sicher ein Extrembeispiel, aber ja, natürlich wird da alles was außerhalb der (oft heterosexuellen), aber wenigstens monogamen Zweierbeziehung mit Familienwunsch & Zusammenleben als Kleinfamilie zur devianten Lebensart erhoben.
Als Symptom einer BPS würde ich das aber wiederum anders fassen (& weiß auch, daß gute Verantwortliche es so handhaben): Ausschlaggebend hier sollte wieder der Leidensdruck sein. Und natürlich müssen die ärztlich/therapeutisch Tätigen da mal einen Moment innehalten. Gerade im Bezug auf die sexuelle Orientierung muß unbedingt gefragt werden, warum der Leidensdruck auftritt. Ich behaupte mal, in vielen Fällen würde sich dann nämlich herausstellen, daß es nicht die Identität/Orientierung an sich ist sondern daß Scham & Selbsthaß aus der Konfrontation mit einer homo-/transphoben, heterosexistischen Gesellschaft entstehen. Therapierende dann in der Community selbst zu suchen, könnte hier vielleicht ein bißchen helfen. Ansonsten bleibt wohl nur der Zufall ob man an die “richtigen” Leute gerät die einen empowern & nicht niedermachen.
Die Idee einer “essentiellen” Identität als zu setzende Norm finde ich auch hochproblematisch – andererseits ist die hier gemeinte Identitätsstörung für mich persönlich etwas viel Tiefergehendes. Es geht gar nicht darum, jederzeit ein unverbrüchliches, rigides Konzept von sich selbst zu haben – das finde ich eher erschreckend. Vielmehr geht es darum, ob die eigene Identität in einem positiven Sinne als fließend, als mehrdeutig, als facettenreich mit Ecken & Kanten wahrgenommen werden kann oder ob – im negativen Sinne – jedes Gefühl für sich selbst, für ein ICH verloren geht. In diesem Moment setzt nämlich eine Lähmung ein, die sehr qualvoll ist. Nicht man selbst zu sein, gar kein Ich zu besitzen – dann gibt es auch nichts mehr, was einen aufhält, selbst- oder fremdgefährdend zu werden, Dinge zu zerstören die einem wichtig sind, keine Hilfe zu suchen wenn man nicht mehr kann (denn auch das nimmt man dann nur noch am Rande wahr).
Ein Bild aus meiner eigenen Seelenwelt: Wenn es mir gutgeht, bin ich ich. Die Frau Soundso mit den & den Hobbys die X & Y liebt, das studiert, diese Wünsche hat die sich gerade mal wieder geändert haben & die gerade ein Eis ißt. Etwas unsichtbares hält alles das zusammen in einem Körper der eben meiner ist. Und alles zusammen wiederum ist ich.
Wenn es mir schlecht geht: Ein Haufen Spiegelscherben in einer Wasserlache. Immer nur die anderen reflektierend weil da keine Tiefe, sondern nur eine reflektierende Oberfläche ist. Ein dunkles Nicht-Ich, ein Nichts, ein Gefühl wie sterben – langsam & qualvoll.
Letzteres ist für mich der Kern dieses Kriteriums – & nicht eine aufgesetzte Norm, was ich zu fühlen habe & wie ich zu sein habe.
4. Impulsivität
In der DBT wird ja gerne mit Spannungsbögen gearbeitet zur Selbstreflexion. Weil das schnelle Hochkochen der Gefühle, vor allem aber die Schwierigkeiten, von der Erregung herunterzukommen ein echtes Problem sind. Wie bei Punkt 3 sehe ich hier zum einen wieder den Punkt Leidensdruck & zum anderen die Wichtigkeit einer Differenzierung zwischen “Passt die Borderlinerin in die patriarchale Norm?” & wirklich problematischen Verhaltensweisen.
Essen verschlingen um es hinterher wieder zu erbrechen & das vielleicht mehrfach die Woche ist ein Problem für Körper & Seele der Betroffenen, sich vom Sog einfach nur mitgerissen zu fühlen, sorgt später gerne mal für Scham & Selbsthaß. Unsafer Sex, womöglich auch noch non-konsensual aufgrund von Breit-Sein als Selbstmedikation – (Re-)Traumatisierung, STDs, Schwangerschaft, Verletzungen, möglich ist da viel.
Ich sehe durchaus, daß Du vor allem kritisieren willst, daß es unsinnig ist, eine kranke Normalität als Norm zu setzen & dann Menschen danach zu sortieren ob sie fähig und/oder gewillt sind, sich dieser kranken Norm anzupassen. Ich sehe aber auch, daß es gefährlich ist, die normalerweise extrem selbstschädigenden Borderline-Impulsivitäten irgendwie positiv als Aufbegehren gegen eine Norm zu deuten. (Womit ich nicht sagen will, daß Du das tust, aber dabei lande ich, wenn ich das weiterdenke).
5. SVV
Hier habe ich (ausnahmsweise ^^) mal fast nichts zu kritteln. Gerade das Sichtbarmachen erlebter Gewalt, der Versuch, das Unaussprechliche auszusprechen – Sprache des Körpers.
Ganz wichtig!
Selbstverletzendem Verhalten liegt ganz sicher auch eine gewisse Widerständigkeit zugrunde – vielleicht kann man sie gar als eine DER widerständigen Praxen v.a. von Frauen sehen, die die Sprache “Hysterie” irgendwann abgelöst hat.
Trotzdem auch hier der kleine Einwand: Bitte nicht nur widerständig deuten, große Wunden, Verletzungen des Kopfes etc. sind in all ihrer Widerständigkeit auch massiv selbstschädigend & können darüber hinaus auf hochaktive Täterintrojekte & massive Dissoziationszustände hinweisen!
6. Affektive Instabilität
Für mich geht es nicht darum, mir sagen zu lassen, wie ich mich zu fühlen habe & wann ich in Partylaune zu sein oder gar fähig zum Arbeiten sein zu habe. Das Problem sehe ich eher darin, daß man sich manchmal auch gerne mitteilen möchte, das Bedürfnis hat, von nahestehenden Menschen verstanden zu werden. Zusammen mit dem borderline-typischen “Gefühlswust” ist das aber oft nicht möglich. Es bleibt für Außenstehende meist nur ein komplettes Nicht-Verstehen (& ich spreche hier nicht mal von direktem Unverständnis) & man selbst bleibt allein & fühlt sich absolut unverstanden.
7. Chronische Leere
Die bringe ich wiederum mit den Identitätsproblemen zusammen. Ansonsten würde ich Dir zustimmen.
8. Wut
Die Pathologisierung von Wut, von Gewalt, von Aggression überhaupt ist ja immer noch ein beliebtes Thema wenn es um Frauen geht. Aber auch hier würde ich verschiedene Arten von Wut unterscheiden.
Ich war z. B. immer eine wütende Frau. Und ich bin stolz darauf. Wut hat mich zur Feministin, zur Antifaschistin, zur Kämpferin für Würde & Menschenrechte gemacht. Dafür bin ich der Wut dankbar.
Die andere Wut in mir ist Teil einer Selbstvernichtungsstrategie – da pöbele ich alleine eine Horde Faschos an, brülle ich die Person, die ich liebe runter bis sie nichts mehr sagen kann, beleidige meine Mitbewohner weil sie eine für mich unverständliche politische Einstellung haben, werde an der Supermarktkasse pampig weil ich höre, wie jemand über meine Piercings spricht.
Das ist vielleicht nicht mal alles unangemessen, aber es ist heftig, es ist unkontrollierbar, ich bringe damit mindestens mich selbst in Gefahr. Und das hat nichts, aber auch gar nichts mit meiner gerechtfertigten Wut auf die Verhältnisse zu tun. Die ist nämlich nicht pathologisch.
9. Dissoziation
Eine Ressource, die mir damals das Überleben überhaupt erst ermöglicht hat, als “Störung” zu bezeichnen – das verletzt mich & macht mich wütend. TraumatherapeutINNen die ein bißchen was auf dem Kasten haben, setzen das nur ein, um eine Diagnose festzulegen, damit die Krankenkasse bezahlt. Ansonsten werden eben solche Überlebensmechanismen (& dazu gehört eigentlich die gesamte BPS-Symptompalette + Angst + Depressionen + andere Persönlichkeitsstörungen) als Ressourcen gedeutet & MÜSSEN als Ressource, als Widerstandskraft gedeutet werden damit eine Behandlung überhaupt erst die Chance hat, “erfolgreich” zu werden.
Wie man vielleicht bemerkt, geben sich bei meinen Ausführungen kühle Analyse & hochkochende Gefühle die Hand & tanzen Polka, deswegen möchte ich zum Schluß noch einmal anmerken, daß es mir nicht darum ging, eine interessante & bereichernde Analyse niederzumachen sondern eher darum, mich an die Leerstellen (aus meiner Sicht) zu hängen.
Ich bin nicht nur Betroffene, ich komme gleichzeitig von der anderen Seite der sozial-psychiatrisch Tätigen, das führt sicher noch mal zu einer ganz anderen Perspektive.
Was ich letztendlich sagen wollte: So ein Diagnosekriteriumskatalog ist immer problematisch weil er mit Norm & Abweichung arbeitet & weil er so sehr Teil der herrschenden Norm ist. Deswegen ist es wichtig, daß es wieder & wieder kritisiert wird. Ich glaube allerdings auch daran, daß eine Möglichkeit ist, solch ein Instrument der Herrschaftssicherung (& das ist es letztendlich) für sich selbst zu nutzen & vielleicht sogar zu einem Instrument widerständiger Praxis zu machen. Vielleicht ist das auch gar nicht möglich, aber zumindest möchte ich es versuchen, meinen Teil zu einer (Wieder-)Aneignung von Sprechen (bis jetzt leider nur: ÜBER MICH statt MIT MIR – das muß sich ändern) beizutragen.
Btw, Anonym über mir hat noch ein paar Punkte eingebracht, denen ich gerne voll zustimmen möchte…
(Und ich hoffe, das wird jetzt nicht als Spammen wahrgenommen, war nämlich nicht meine Absicht)
1
„Mir zumindest hätte es geholfen, wenn mir früher jemand klar gemacht hätte, daß meine Vermeidung von Verlieben, Beziehungen führen etc. vor allem etwas mit der Todesangst vor dem (Wieder-)Verlassenwerden zu tun hat.“
2
„alleiniges Problem von Heterobeziehungen, zumal Du auf lesbische, polyamore etc. Beziehungen nicht eingehst. Wie Du das dann siehst, würde mich tatsächlich interessieren“
3
Dem was du dazu schreibst würde ich voll zustimmen. Auch dem Innenleben. Du schreibst auch „Letzteres ist für mich der Kern dieses Kriteriums – & nicht eine aufgesetzte Norm, was ich zu fühlen habe & wie ich zu sein habe.“ Natürlich können wir uns die Kriterien so zurechtrücken, dass sie zu uns passen. Oder was wir gut fänden, was den Kern des Kriteriums ausmachen sollte. Aber durch das Sortieren in ein „Symptom“ passiert zunächst etwas anderes: Ein Verhalten / Gefühlserleben wird stigmatisiert.
4
Hier würde ich dir widersprechen: „Ich sehe aber auch, daß es gefährlich ist, die normalerweise extrem selbstschädigenden Borderline-Impulsivitäten irgendwie positiv als Aufbegehren gegen eine Norm zu deuten.“ Es ist nicht positiv was du beschreibst. Non-konsensualer Sex, Essen – alles durch. Und ist scheiße. Aber es ist trotzdem ein Aufbegehren gegen eine Norm. Es ist ein Versuch, in einer verrückten, gefährlichen Umgebung zu Existieren. Und manchmal bleibt dafür nur Selbstschädigung als Strategie übrig.
5.
Ja, das schrieb ich ja auch im Text, es könnte verherrlichend wirken. Und relativiert damit ein wenig die Gefahr gerade von Fortsetzung von Gewalt gegen sich selbst.
6.
Die Frage ist hier auch, wer versteht wann wie ich kommuniziere. Was muss dafür passieren? Ist es nur meine Schuld, dass ich mich nicht richtig ausdrücke? Eigenverantwortung? Oder ist es nicht auch eine gesellschaftliche Frage, auf welche Stimmen gehört werden, welche Formen von Kommunikation erlernt werden?
8.
„Das ist vielleicht nicht mal alles unangemessen, aber es ist heftig, es ist unkontrollierbar, ich bringe damit mindestens mich selbst in Gefahr. Und das hat nichts, aber auch gar nichts mit meiner gerechtfertigten Wut auf die Verhältnisse zu tun“ Teil eins stimme ich zu, Teil 2 nicht. Es ist nichts essenstialistisches, so eine Wut zu empfinden, nicht ursprüngliches, genetisches, krankes, was auch immer. Deine Wut hat einen Grund. Auch wenn sie sich manchmal im falschen Moment äußert. Wenn wir alle Wut rauslassen würden, die wir auf Grund unserer Ohnmachtserfahrungen haben, dann würde aber ordentlich was brennen…
9.
Volle Zustimmung.
Ich denke jedoch nicht, dass die Diagnosen die Option zum Widerstand bieten. Sondern die Praxen, die wir uns eh schon angeeignet haben. Einen autonomen Umgang gefunden haben. Kreative und für Außenstehende völlig unverständliche Methoden zum Überleben von Gewalt und der eigenen Gefühlswelt.
Und Verrücktsein bedeutet, sich dem Zugriff einer „rationalen“ Gesellschaft zu entziehen.
Diagnosen stellen den Versuch dar, das zu brechen, nicht den Versuch, das Leid zu lindern. Wenn die Krisen und der Schmerz im Zentrum ständen, würde das alles ganz anders aussehen. (Was mich daran erinnert einen Artikel über Widerstand zu schreiben demnächst^^)
Und danke euch beiden für eure Anregungen und das weiterdenken!
Problem an der Borderlinediagnose – und den meisten psychiatrischen Diagnosen – ist denke ich zum einen, dass völlig unterschiedliche Menschen aus völlig unterschiedlichen Gründen Symptome entwickeln, die sowohl PS Kriterien als auch BL Kriterien erfüllen. Die Krierien sind ja Zustandsbeschreibungen – wie eben in der Psychiatrie heute Zustände beschrieben werden weil es einfacher und “objektiver” scheint als noch die Hintergründe, Konflikte etc die dahinter stecken mit zu berücksichtigen. unkontrollierte Wut, Leere, Identitätskrise, Dissoziation – mit diesen Wörtern können ganz unterschedlichen Vorgänge beschrieben werden, die aus unterschiedlichen Gründen, und in unterschiedlichen Zusammenhängen auftreten und so jeweils ne ganz andere Beteutung haben. Also am Ende haben ne Menge Leute ein und die selbe Diagnose, obwohl ihre Grundprobleme völlig unterschiedlich sind.
Das führt dann zum nächsten Problem – dass in quasi sämtlichen Selbsthilfebüchern und auch in Betroffenenkreisen die Krierien als “Fakt” angesehen werden: So und so funktioniert die Borderlinepersönlichkeitsstörung. Es gibt die und die Kriterie, die und die Theorien wie das alles zusammenhänge. Als ob es so etwas wie eine Borderline”identität” gäbe. Wir Bordies, wir verstehen uns, etc.
Die Diagnose wird ja auch vielen sehr jungen Menschen vergeben – teilweise ja unter 18 schon, oder Menschen in eine Lebenskrise, die gerade nicht wissen wer sie sind, wer sie sein wollen, wohin sie sich entwickeln wollen, welche Fähigkeiten und Möglichkeien sie haben. Und in dieser Verwirrung kann es Erleichertung bringen eben eine “Borderlineidenität” zu bekommen. Das beantwortet dann vermeintlich die meisten Fragen darüber wer man is, wieso man so ist, wie man funktioniert, wo man sich zugehörig fühlen kann. Fatal daran, dass es ja nur Täuschung ist, und die Entwicklung sich ehrlich damit auseinander zu setzen eben behindert. Gerade bei machen jungen Menschen macht es mich so wütend, weil sie durch die Diagnose Borderline erst zu Borderlinern “gemacht” werden.
Und was ich auch sehr auffällig finde ist die große Macht, die Diagnosen, und somit die Psychiatrie haben, wenn es darum geht Schmerz und Wahrnehmung zu legitimieren. Eine Diagnose ist Legitimation. Vielen Menschen bringt eine “schlimme” Diagnose Erleichterung, weil sie wenigestens ernst genommen werden und sie endlich ein “anerkanntes” Wort zur Verfügung haben um ihre Siuation zu beschreiben. Wie wichtig Legitimation durch Medizin ist merkt man ja daran wie “nichtmedizinische” Wörter wie Pubertätskrise, Lebenskrise als grundlegend abwertend, den Schmerz nicht ernst nehmend empfunden werden – als ob “Krise” als Wort nicht schon Schmerz, Verwirrung, Angst und Dringlichkeit ausdrücken würde, als ob ne Krise nicht vernichtend sein könnte.
Viele gehen ja so weit, dass sie sich NUR dann ernst genommen fühlen werden, egal wie sonst so auf ihre Schwierigkeiten eingegangen wird, wenn sie eine entsprechende Diagnose vorweisen können. Erleben, Schwierigkeiten sind nur dann okay, wenn sie “echt krank” sind. Wie viele Menschen stellen sich die Frage “bin ich krank oder stelle ich mich nur an?” – als ob es diese 2 Möglichkeiten gäbe. Das ist eine Wahnsinnige Macht, die der Medizin allgemein, und hier der Psychiatrie verliehen wird, und mir wird immer wieder so mulmig wenn ich merke wie Mitbetroffene das ohne Hinterfragen genauso anwenden.
Hey Nicky, ich würde dir bei dem Meisten was du geschrieben hast auch voll zustimmen! Ich hoffe, das ist nicht so rübergekommen im ersten Teil. Mir geht es ja darum, aufzuzeigen, dass es andere Formen von Anerkennung von Schmerz und Leid/Erfahrungen geben muss. “Pubertätskrise” war in dem Moment von diesem Menschen aber genauso gemeint: “Ist ja nicht so schlimm”. Ich glaube, hätte ich mich voll ernst genommen gefühlt, wäre die Diagnose nicht wichtig gewesen.
Irgendeine andere Betroffene sagte mal: Besser Borderline als gar keine Identität. Das hat mich zum Nachdenken gebracht. Es ist nur ehrlich gewesen. Schätze, ich habe es selbst eine Weile so gepflegt.
Die Frage ist nach den Alternativen. Wo die Anerkennung herbekommen? Wo die Pausen, wenn nicht durch krankschreibung?
(Diese Fragen dienen nicht als Legitimierung einfach schön weiter mit im psychiatrisch-medizinischen Spiel zu machen, weil es ja nix gibt, sondern sind pragmatisch ernst gemeint auf der Suche.)Ich finde es total erschreckend, denn sobald Ärzte etc. das Wort “Borderline” hören kriege ich alles. Krankschreibungen, Drogen, whatever.
Wenn ich sage: So und so fühle ich mich ist es ungleich schwerer. Und das ist sehr traurig und reproduziert die Macht von Medizin und Psychiatrie.
3 mal wurde ich von psychologen als “Borderline krank” erklärt. und mit so tollen erklärungen wie “sie argumentieren immer gegen das was ich sage!” und “sie wollen einfach nicht wie alle anderen sein”, das verbunden mit essstörung und selbstverletzung = borderline.
Zum glück hatte ich eine gute psychologin damals und einen psychater der gesagt hat, dass das nur eine verlegensheitdiagnose ist.
Mit Wut kann ich dir nicht dienen. Mir bereitet Wut grundsätzlich Unbehagen. Manchmal benötige ich sie aber als Ventil.
Wenn ich deinen Text lese, und zwar “psychodynamisch” (d.h. unter der Fragestellung, welche Grundbedürfnisse werden durch welche Verhaltensformen und Argumentationen bedient), dann argumentierst du oftmals in eine rechtfertigende Richtung, bzw. die Argumentation dient diesem Zweck.
Was mir dazu einfällt? Erstens, niemand bzw. kaum jemand möchte in seinem/ihrem Sein pathologisiert werden. Insofern ist es sowohl menschlich verständlich, als auch prinzipiell gesund, wenn mensch sich gegen pathologisierende Zuschreibungen wehrt.
Zweitens fällt mir dazu ein: Auch dann, wenn die Sache mit der Borderlinestörung bei dir zutreffen sollte, bist du weiterhin ein: wertvoller und liebenswerter Mensch.
(mich würde mal interessieren, ob dieser Satz, den ich völlig ernst meine, bei dir eher Spannungen auslöst – oder vielleicht sogar entspannt)
Ich denke, ich habe eine gewisse Kompetenz im Themenfeld “Borderline” – und tatsächlich wird diese Störung (bzw. Lebenserschwernis – so würde ich das eher nennen) oft als “Modediagnose” bzw. falsch verwendet. Außerdem ist imho zu bedenken, dass mit Borderline oft auch andere Erschwernisse einher gehen (z.B. bipolare Depressionen, ganz konkrete Beziehungsprobleme, evtl. Suchtproblematiken), die jeweils für sich Gewicht haben – und im konkreten Fall auch viel KnowHow (z.B. den richtigen Therapeuten/in) benötigen, um das aufzudröseln.
Die gute Nachricht lautet: Es lässt sich lindern. Ein besseres bzw. weniger frustrierendes Leben ist möglich. Es existieren sehr viele gute Hilfestellungen.
Du wirst deinen Weg schon finden.
Mein Eindruck bei deinem Text ist es, dass du zwei Themenbereiche miteinander vermischt (die imho tatsächlich in teils vermischter Form auftreten), wo es etwas einfacher wird, wenn man sich diese Themenbereiche zunächst einzeln durchdenkt. Zum Beispiel so:
Thema A: Inwieweit trifft “Borderline” bei mir zu?
Thema B: Was ist problematisch am Borderline-Begriff (u.a. aus feministischer Sicht), und inwieweit befindet sich der psychiatrische Krankheitsbegriff immer noch in der “konformistischen Falle” (ich denke, du verstehst, was ich damit sagen will) und negiert die gesunden und guten Anteile bei demjenigen, auf den ein Therapieschlüssel angewendet wird?
Wenn du magst, “kaue” ich deinen Text noch etwas genauer durch und liefer dir dazu meinen Senf (Geschmacksrichtung: mildwürzig).
Lothar
Ähm… Wie eingangs geschrieben, war es meine ABSICHT, Ebenen zu vermischen. Kompetent sind meiner Meinung nach nur Betroffene selbst. Und auf ein Herrklären, wie ich meine Texte doch “besser” schreiben kann, kann ich verzichten. Kritik und Anregungen gerne, aber wenn dir meine Art nicht passt: Schreib selbst nen Blog.
Und “bist du weiterhin ein: wertvoller und liebenswerter Mensch.
(mich würde mal interessieren, ob dieser Satz, den ich völlig ernst meine, bei dir eher Spannungen auslöst – oder vielleicht sogar entspannt)”
Ich bin doch kein Forschungsobjekt! Wer sagt, dass ich für dich (einen völlig fremden Typen!) liebenswert sein will?!?
ich geh mal mein “Lebenserschwernis” “lindern”.
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Großartige Analyse!
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Oft empfinde ich die BPS Diagnose als diskriminierend und die Therapien nicht immer zielführend und hilfreich. Im großen und ganzen stimme ich mit dem Artikel überein. Ein systematisches Problem sehe ich darin, dass BPS oft vorschnell diagnostiziert wird und das Sammelsurium an Kriterien mir patriarchalisch vorkommt. Z. B. wird bei SVV und PTBS Symptomen meist BPS diagnostiziert. 1. Dissoziation und 2. Identitätskrisen kommen auch bei PTBS vor, ebenso wie eine 3. Tendenz , Substanzen oder/und Alkohol zu konsumieren. Auch ist zu beachten, dass gelegentlicher Cannabiskonsum bei jungen Menschen öfters vorkommt, für den Psychiater aber ein Diagnosekritetium darstellt. War das Trauma bpw. eine Vergewaltigung im frühen Erwachsenenalter, kann der Psychiater diese nun leugnen und die Schuld der Patientin zuweisen mit der Begründung, sie hätte 4. unklare sexuelle Ziele gehabt, wodurch er ihr noch Sexsucht od. riskantes Verhalten unterstellen kann. Meist hat eine Frau nach einer Vergewaltigung kaum noch Lust auf Sex, aber vorher evt. schon und dass man mit 18 bis 22 nicht immer treu war, kommt bei vielen vor, aber das gilt dann als Diagnosekritetium. Die Flashbacks werden nicht geglaubt und können als Paranoia interpretiert werden (Punkt 1.) Flashbacks können auch zu Stimmungsschwankungen beitragen. 5. Ein inneres Gefühl der Leere kann einfach vom Psychiater behauptet und schwer widerlegt werden. 6. Essstörungen kommen öfter als Folgen von Trauma vor. 7. Wenn man mit schwerer PTBS keinen Therapieplatz findet, fühlt man sich oft alleine mit seinen Flashbacks. Obwohl sich die PTBS ler oft zurückziehen und Kontakte meiden, kann so schnell die Furcht vorm Alleinsein konstruiert werden. Nicht nur deswegen empfinde ich diese Diagnosekritetien als frauenfeindlich. Frühkindlicher Missbrauch/Gewalt führen i.d.R zu Traumafolgestörungen, die man behandeln sollte. Leider habe ich den Eindruck, dass dies bei den heutigen Therapiekonzepten nicht im Vordergrund steht, es wird alles auf die betroffenen abgewälzt , tabuisiert. Schlafstörungen, Übererregung, Angstzustände durch Trigger (Flashbacks), Dissos, Identitätskrisen weisen auf eine PTBS hin.